Wir sind Eltern einer 6-jährigen Tochter. Nach einer Reihe von
mehreren Entwicklungs-Problemen mit ihr, sind wir jetzt mit dem KISS-Syndrom
konfrontiert worden. Was ist das, was kommt auf uns zu?
Doch ich glaube, ich fange der Reihe nach an.
Anja wurde nach einer normalen Schwangerschaft pünktlich und spontan
geboren. Zu Hause fiel uns auf, dass sie nicht auf der Seite oder auf dem
Rücken schlafen wollte. Sie wuselte so lange im Bett, bis sie auf
dem Bauch lag. Das machte uns große Sorgen, da man dies als Auslöser
für den plötzlichen Kindstod ansah. Doch wir waren dagegen hilflos,
da sie solange schrie, bis sie es wieder einmal geschafft hatte. In den
Kinderwagen wollte sie überhaupt nicht. Mein Mann lehnte es sogar
ab, mit ihr im Kinderwagen zu fahren, da er das Gebrüll von ihr nicht
ertragen konnte. Ansonsten war sie ein Baby, dass 12 Stunden schlief und
dann den ganzen Tag keine Ruhe gab. Manchmal ganz schön anstrengend.
Am liebsten war sie auf dem Arm. Dort beobachteten wir, daß sie die
Ärmchen sehr weit nach hinten überstreckte. Sie wurde zu einem
richtigen Bogen. Der Kinderarzt schenkte dem keine Beachtung, das würde
sich schon wieder geben.
Mit einem halben Jahr stand die Diagnose Neurodermitis fest. Doch das
war ja kein Wunder, Veranlagerung von ihrem Vater.
Anja konnte mit 8 Monaten sitzen, das Krabbeln ließ sie aus,
mit 14 Monaten lief sie frei. Mit 2 ½ Jahren war sie trocken. Sie
fuhr nie Dreirad, und als sie es konnte, war sie zu groß dafür.
Mit 3 Jahren konnte Anja Fahrrad fahren (mit Stützrädern). Aber
damit wurden auch ihre Gleichgewichtsprobleme deutlicher. Bei jedem kleinsten
Kibbeln des Rades geriet sie in Panik. Es war echt ein Krampf.
So ging Anja mit knapp 3 Jahren zu einer Tagesmutter, da ich wieder
berufstätig wurde. Sie fühlte sich dort sehr wohl. Als wir die
Entscheidung für einen Tagesstättenplatz in unseren Händen
hielten, waren wir darüber sehr glücklich. Die Aussage der Tagesmutter,
dass Anja in einer großen Kindergruppe nicht zurechtkommen würde,
wollten wir nicht akzeptieren. Dann kam sie in eine integrative Einrichtung
mit einer kleinen Gruppengröße. Zu diesem Zeitpunkt sahen wir
aber schon, dass mit Anja etwas nicht stimmte. Sie war anders als andere
Kinder. Anja hatte Probleme mit der Motorik. Sie wirkte oft tolpatschig
und grob, konnte das Gleichgewicht schlecht halten und war dadurch sehr
ängstlich. Mit Besteck oder Stiften umzugehen, war für sie utopisch.
Durch den Kindergarten angesprochen, fiel uns auf, dass Anja patschig
lief. Der Kinderarzt schickte uns zum Orthopäden. Dort wurden nach
zwei Blicken Einlagen verordnet. Bei zwei Vorsorgeuntersuchungen wurden
wir zum Augenarzt geschickt, Anja würde schielen. Auch der Augenarzt
bestätigte das auf den ersten Blick. Nach einer gründlichen Untersuchung
war das aber Fehlalarm. Die Augen waren völlig in Ordnung. Auffällig
war auch, dass Anja auf dem linken Bein sehr gut hüpfen konnte, auf
dem rechten Bein gelang es ihr nur 2 bis 3 Mal. Diese Bemerkung, „das kommt
schon noch“, hörten wir nicht nur einmal.
Anja war immer ein recht robustes Kind. Sie war nie krank, so dass
sie ihr Kinderarzt nur von den Vorsorgeuntersuchungen her kannte. Vielleicht
wäre uns dadurch so manches erspart geblieben.
Mit 5 ½ ging es jetzt so langsam an die Einschulungsuntersuchungen.
Anja wurde kurz vor dem Stichtag geboren. Uns war auch klar, dass sie von
der Entwicklung her noch nicht schulfähig war. Deshalb kam für
uns nur die Vorschule in Frage. Doch bevor das Verfahren überhaupt
anlief, riet uns der Kindergarten, Anja pädagogisch testen zu lassen.
Außerdem konnte sie in der Einrichtung jetzt regelmäßig
eine Ergotherapeutin besuchen. Nach diesen Tests wurde uns das ganze Ausmaß
von Anjas Entwicklungsverzögerung bewusst gemacht. Ihre Motorik entsprach
dem eines behinderten Kindes, aber mit einer normalen Intelligenz. Ihre
Gleichgewichtsprobleme wurden als Wahrnehmungsstörung betitelt. Was
tun?
Das Vertrauen zu Anjas Kinderärztin war hin, so dass wir zu einem
Arzt wechselten, den wir aus Vertretungsfällen her kannten.
Die Einschulungsuntersuchung war für uns echt ein Erlebnis. Dieser
Ärztin erzählten wir all unsere Probleme und Sorgen mit Anja
und wurden hier das erste Mal so richtig ernst genommen. Am Ende stand
fest: Fortführung der Ergotherapie, Vorschulbesuch, fragliche Fehlhörigkeit
untersuchen lassen ( die sich auch bestätigte). Uns wurde das erste
Mal bewusst, dass Anja nicht unwillig ist, sondern dass sie einfach nicht
kann. Wir machten uns die größten Vorwürfe. Doch da Anja
ein Einzelkind ist, sahen wir nicht den Vergleich zu anderen, normal entwickelten
Kindern. Was nun?
Wir standen mit diesem Problem auch recht allein da. Die Familie wohnt
weit weg, sah Anja nicht so häufig, so dass wir aus dieser Richtung
völliges Unverständnis erfuhren. Was wir nur wollten, Anja wäre
völlig normal. Wir sahen das ganz anders, wir wollten doch Anja nur
helfen, dass sie später in der Schule nicht versagt. Muss denn das
Kind erst ins Wasser fallen? So erzählten wir immer weniger darüber,
was vielleicht ein Fehler war.
Anja besucht seit August 2000 die Vorschule und entwickelt sich prächtig.
Sie weiß jetzt, wozu der Stift da ist und scheint alles nachzuholen,
was sie in ihrer Kindergartenzeit nicht getan hat. Im Oktober 2000 erlernte
sie das Fahrradfahren ohne Stützräder und ihr Selbstbewusstsein
stieg enorm. Die Vorschule hat keinen Grund zu klagen, nur Lob (richtig
unheimlich). Die Ergotherapie beendeten wir nach einem Jahr, da deutliche
Verbesserungen zu erkennen waren. Mit Freude besucht Anja nun regelmäßig
eine Kindersportgruppe und erlernt das Schwimmen.
Nun stand die nochmalige Vorstellung im Gesundheitsamt an. Wir landeten
tatsächlich bei der gleichen Ärztin. Anja wurde als voll schulfähig
eingestuft. Doch hier wurde eine Asymmetrie im Schulter-Hals-Bereich festgestellt.
Fragestellung: KISS-Syndrom ?
Nun, da sich mit Anjas Entwicklung alles normalisieren zu scheint,
schon wieder so eine utopische Krankheit. Warum denn wir?
Doch wir erkundigten uns, was das überhaupt ist. Wir surften im
Internet und fanden sehr informative Seiten. Wie kann das nur möglich
sein? Sollte Anja wirklich dieses Syndrom haben, würden sich all unsere
Sorgen erklären lassen. Warum erkennt das erst eine Ärztin, die
Anja nur einmal im Jahr sieht?
Wir haben jetzt einen Termin bei einem Orthopäden, der sich mit
diesem Krankheitsbild auskennt und können es kaum erwarten, Anja vielleicht
endlich wirklich zu helfen.
März 20001
Heute habe ich einen Termin beim Orthopäden. Schon in der Anmeldung
wurde ich empfangen : „Ach, sie kommen wegen dem KISS-Syndrom“. Als ob
es die normalste Sache der Welt sei, dieses Krankheitsbild ausschließen
zu lassen. Der Arzt stellte als erstes ein paar Fragen zur Geburt und der
Entwicklung von Anja. Bei allem, was ich berichtete, nickte er zustimmend.
Ich brauchte nicht lange erzählen, er wußte anscheinend sofort
Bescheid. Dann wandte er sich Anja zu, und stellte eine deutlich hängende
rechte Schulter fest. Das Hüpfen auf einem Bein zeigte ihm ganz deutlich,
daß Anjas Problem die rechte Seite war. Er testete die Beweglichkeit
der Kopfdrehung, und bestätigte die Blockierung des ersten Halswirbels.
Also doch das KISS- Syndrom! Doch noch ehe ich denken und schauen konnte,
war der Arzt damit beschäftigt, das Problem bei der Wurzel zu packen.
Mit einem geübten Griff und einem lauten Knacken wurde Anja manuell
therapiert. Danach konnte man eine deutlich bessere Kopfbeweglichkeit erkennen.
Der Arzt stellte außerdem eine Blockierung der unteren Wirbelsäule
fest. Im Rückenlage sollten sich beide Fußsohlen berühren.
Dabei sah man deutlich, daß bei der Spreizung der Beine das rechte
Knie höher stand als das linke Knie. Mit einem raschen Griff wurde
auch diese Blockierung gelöst. Anja ließ alles mit sich machen.
Nicht ein Mucks ging über ihre Lippen. Sie war sicher genauso überrascht
wie ich.
Problem erkannt, beseitigt und als geheilt die Praxis verlassen. Sollte
es so etwas geben?
Dann wurden mir noch meine Sorgen genommen. Bei 70 % der Kinder sind
mit einer einmaligen Manipulation die Symptome behoben. Nach der Manipulation
sollte jetzt Ruhe einkehren. Anja sollte keiner weiteren Therapie zugeführt
werden. Diese Erkrankungsbild sollte man wie einen Schnupfen oder eine
Heiserkeit ansehen. Wir sollen jetzt Anja beobachten und sie in 4 Wochen
nochmals vorstellen. Nach Meinung des Arztes wird Anja jetzt „aufblühen“
und Sachen machen, die wir von ihr nie gesehen haben. Erst dann - nachdem
eine Ruhephase eingetreten ist - kann man überlegen ob krankengymnastisch
behandelt wird. Auch nahm er uns die Sorgen, daß diese Behandlung
nicht von unserer Krankenkasse getragen wird. Diese Manipulationen sind
ganz normale kassenärztliche Leistungen. Er selbst nimmt diese Behandlungen
bei Kindern seit 1988 vor. Nur bei Kindern spricht man vom KISS-Syndrom
( Kopfgelenk induzierte Symmetriestörung). Auch bei Erwachsene gibt
es Symmetriestörungen im Bereich der Wirbelsäule. Hier wird dann
aber von einer Blockierung gesprochen.
Die erste Woche danach
Schon am nächsten Tag schaffte Anja etwas, was ihr immer mißlang. Zu den Getränk Capriesonne gehört ein Trinkröhrchen, der in die weiche Tüte eingestochen werden muß. Es gelang ihr auf Anhieb. Sie sucht sich jetzt Gelegenheiten zum Balancieren. Jede Möglichkeit nutzt sie. Sonst suchte sie dazu immer meine sichernde Hand. Anja versucht es selbst und es gelingt auch. Sie braucht auch nicht mehr die Arme dazu seitlich auszustrecken, um das Gleichgewicht zu halten. Nach Aussage meiner Schwiegereltern läuft sie leichter und beschwingter. Heute beobachtete ich, daß sie mutiger wird, sich einfach mehr zutraut und nicht immer mich als Sicherheitsgarantie benötigt.