Pressebericht von Focus 32/2002

 

Das schwächere Geschlecht

Forschungsergebnisse, die überraschen: Jungen sind sensibler, langsamer und liebesbedürftiger als Mädchen
 
 

In der Sekunde null haben die Jungen noch die Nase vorn. Bei der Befruchtung gibt es mehr männliche als weibliche Embryos.
"Die männliche Pole-Position wird indes umgehend angegriffen", schreibt der Londoner Kinder- und Jugendpsychater Sebastian Kraemer in seiner berühmten Studie "Das fragile männliche Geschlecht".

Der maskuline Fötus trägt das größere vorgeburtliche Risiko von Tod oder Beschädigung. Hirnschäden, genetische Deformationen der Extremitäten, Früh- oder Totgeburt treten häufiger bei Jungen als bei Mädchen auf. Kraemer: "Wir wissen, dass die Natur die Jungen in einem unreifen Status auf die Welt bringt."

Das Muster der Plagen setzt sich fort: Jungen leiden drei- bis viermal so häufig wie Mädchen unter Hyperaktivität, auch als Zappelphilipp-Syndrom bekannt, unter Aufmerksamkeitsdefiziten, Stottern, Autismus, Bettnässen oder Legasthenie. Sie lernen später laufen, sprechen und lesen. 13-jährige Jungen können sich nur fünf Minuten konzentrieren, die gleichaltrigen Mädchen hingegen zwölf. Schon im vierten Schuljahr, so eine amerikanische Untersuchung, verbringen die Mädchen mehr Zeit bei den Hausaufgaben und sind seltener gefährdet, sich für Stunden vor dem Fernseher oder Computer zu verlieren.

So wie die Biologie den Knaben viele Nachteile eingebrockt hat, so hat sie ihnen freilich auch ein paar Vorteile mit auf den Weg gegeben: Jungen haben im Durchschnitt größere Fähigkeiten in Mathematik und auf anderen nonverbalen Gebieten.

Schon im zarten Alter von zwei Jahren können kleine Buben mit Spielzeugziegeln bessere Brücken bauen als Mädchen. Sebastian Kraemer fand bei seiner Analyse der Forschungslage noch weitere Unterschiede: Im Durchschnitt haben Jungen bessere räumliche und navigatorische Fähigkeiten wie man sie beim Werfen, Einparken, Kartenlesen, Schachspiel oder in der Architektur braucht. In allen Kulturen ist ihre Fähigkeit unübertroffen, dreidimensionale Gegenstände in alle möglichen Richtungen und Winkel im Kopf zu drehen.