Bericht aus der Zeitung "Die Zeit" von 35/2000
                   
                           M E D I Z I N
 
                           Endlich richtig krank

                           Das KiSS-Syndrom - Oder wie Ärzte aus gesunden Kindern zahlende Patienten
                           machen

                           Von Jan Schweitzer

                           Bei einer Routineuntersuchung sagte der Arzt der Mutter, dass mit ihrer Tochter etwas
                           nicht stimme. Symptome zeige das Kind zwar keine. Aber später, da drohe Ungemach.
                           Der Mediziner prophezeite der vierjährigen Sabine eine schwierige Zukunft:
                           Konzentrationsstörungen würden das Kind beeinträchtigen, ein Zappelphilipp werde es,
                           Probleme in der Schule seien die fast zwangsläufige Folge - wenn man nicht schon jetzt
                           etwas gegen das Problem mit dem Namen KiSS unternehme.

                           So wurde aus dem bis dahin gesunden Mädchen für die nächsten Monate eine
                           Dauerpatientin in der Orthopädiepraxis einer Kleinstadt nahe Hamburg. "Bevor man
                           etwas falsch macht, folgt man besser dem Rat des Arztes", sagte sich die verunsicherte
                           Mutter. Langweilen musste sich Sabine beim Arzt nicht, ihr kleiner Bruder Stefan
                           begleitete sie. Denn obwohl auch er der Mutter völlig gesund schien, hatte der Arzt
                           ebenfalls das KiSS-Syndrom diagnostiziert.

                           KiSS ist die Abkürzung für Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störungen. Weil ihr
                           Kopfgelenk blockiert sein soll, liegen die betroffenen Kinder mit etwas gebogenem
                           Rücken im Bett. Oder sie drehen ihren Kopf nur zu einer Seite. Glaubt man den
                           KiSS-Ärzten, dann hat die für Unkundige harmlos aussehende Schiefhaltung fatale
                           Folgen: Sie machen das Syndrom für Schlafstörungen, Fieberschübe und Hyperaktivität
                           verantwortlich. Bei bis zu 90 Prozent der Kinder mit chronischem, dauerhaftem
                           Kopfschmerz ist KiSS die Ursache, schätzt Lutz Erik Koch, Allgemeinmediziner und
                           KiSS-Therapeut aus Eckernförde in Schleswig-Holstein.

                           Derart eindeutig ist die Diagnose aber längst nicht für alle Fachleute. KiSS hat vielmehr
                           einen heftigen Medizinerstreit ausgelöst. Auf der einen Seite stehen die Verfechter des
                           KiSS-Syndroms, zumeist Einzelkämpfer aus den Reihen der niedergelassenen Ärzte. Auf
                           der anderen Seite behaupten Experten an Universitäten und Kinderzentren, dass es
                           KiSS gar nicht gibt. Immer wieder fordern sie Beweise und Belege. "Man darf nicht über
                           Jahre etwas propagieren, ohne in dieser Zeit Studien vorzulegen", kritisiert Dieter Karch,
                           ärztlicher Leiter der Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie in Maulbronn. Der
                           Chef der Universitäts-Kinderorthopädie in Heidelberg, Claus Carstens, bezeichnet KiSS
                           gar als "puren Humbug" und spricht von Behauptungen, "die durch nichts belegt sind.
                           KiSS hält einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand."

                           Trotz aller Zweifel beharren viele Eltern darauf, ihre Kinder seien KiSS-krank. Der Befund
                           ist Balsam auf ihre Seelen, vermutet der Bielefelder Jugendforscher Klaus Hurrelmann:
                           Die handfeste medizinische Diagnose "entlastet die Eltern unheimlich". Macht der Balg
                           Schwierigkeiten, dann gibt es für die Probleme endlich einen wissenschaftlichen Namen.
                           Die Erziehung kann ja nicht schuld sein, wenn das Kind eine Krankheit wie Masern oder
                           Röteln hat.

                           Der "Erfinder" von KiSS ist gebürtiger Schwabe. Seine Privatpraxis in Dortmund ist gut
                           besucht. Heiner Biedermann hat schon Tausende von KiSS-Kindern mit seiner speziellen
                           manuellen Chirotherapie behandelt: Mit einem Finger drückt er den kleinen Patienten
                           sanft auf einen bestimmten Punkt im Nacken. Auf welche Weise die Behandlung im
                           Körper wirken soll, kann der Meister genauso wenig erklären wie alle seine Jünger. "Man
                           sollte sehr zurückhaltend sein mit großen Erklärungen", schreibt Biedermann in seinem
                           gut verkauften Buch KiSS-Kinder. Selbst nach zehn Jahren eiern die KiSS-Therapeuten
                           durchs medizinische Wörterbuch, wenn sie das Rätsel KiSS zu erklären versuchen. Vage
                           spricht Biedermanns Mitstreiter Koch von "Wahrnehmungsrezeptoren" im Nacken, von
                           "falschen Informationen, die dort reingehen und damit auch die Gehirnfunktion
                           beeinflussen". Deutlicher wird er erst, als er den Auslöser des Schiefhaltesyndroms
                           benennen soll: die Geburt. "Kein Tier, bis auf eine Affenart, muss eine so schlimme
                           Geburt hinter sich bringen", sagt Koch. Die natürliche Entbindung, bei der das Kind sich
                           mit allerlei Verrenkungen durch den Geburtskanal zwängen muss, seien der Auslöser
                           des Übels. Und auch die Gene seien schuld, sagt Koch. Oft beobachte er die gleichen
                           Fehlhaltungen bei Vater und Sohn.

                           Persönliche Beobachtungen statt wissenschaftlicher Belege diktieren das Konzept der
                           KiSS-Verfechter. In einem Punkt aber sind sie sicher: Ihre Behandlung hat Erfolg. Der
                           Druck auf den Nacken der Kinder löse Blockierungen in der Wirbelsäule. 50 bis 100 Mark
                           verdienen die Ärzte an solch einer Behandlung. Das sind Kosten, die die Krankenkassen
                           meist nicht übernehmen, die sich nach Ansicht der KiSS-Therapeuten aber lohnen: Häufig
                           stelle sich schließlich bereits einige Tage später eine Besserung ein. Die Babys liegen auf
                           einmal gerade in ihrem Bettchen, sie schauen nicht mehr nur zu einer Seite. Plötzlich
                           haben die Mütter keine Probleme mehr beim Stillen. Kinder, die Nächte zuvor ohne
                           Pause weinten, schlafen nun friedlich, ohne einmal aufzumucken.

                           Und die Heilung soll anhalten. Das vom KiSS-Syndrom befreite Kind kann sich normal
                           entwickeln: keine Angst mehr vor einem hyperaktiven Rabauken, keine Panik angesichts
                           zukünftiger Störenfriede. Es gibt kaum ein Kinderleiden, das KiSS-Therapeuten nicht zu
                           kurieren versprechen, die Palette der Verheißungen wird jährlich größer.

                           Forsch reden sie auch über Zahlen. Koch schätzt zehn Prozent aller Säuglinge als
                           "auffällig" ein. Übersetzt heißt das: Jedes zehnte Kind hat seiner Meinung nach das
                           Schiefhaltesyndrom. Mal mehr, mal weniger, mal gar nicht sichtbar - und natürlich immer
                           nur vom erfahrenen KiSS-Spezialisten behandelbar.

                           Die medizinischen Gegner solcher Methoden hingegen meinen, es gebe bei KiSS gar
                           nichts zu behandeln. Der Heidelberger Kinderorthopäde Carstens sagt, die meisten
                           Schiefhaltesymptome verschwänden durch "intensives Abwarten". Dem stimmt auch der
                           Freiburger Kindernervenarzt Rudolf Korinthenberg zu: "Beidiesem so genannten
                           KiSS-Syndrom wird ein meist harmloses Symptom überbehandelt."

                           Ärztlicher Aktionismus kann gefährlich werden

                           Doch der Mediziner warnt davor, die KiSS-Therapie bloß als ärztlichen Aktionismus
                           abzutun. Gefährlich wird die Diagnose, wenn sie von ernsthaften Krankheiten wie
                           Tumoren oder Fehlbildungen ablenkt. "Ich habe die Sorge, dass nicht mehr nachgedacht
                           wird, wenn KiSS diagnostiziert wurde", sagt er. Die wirklich helfende Therapie würde
                           dann verzögert, meint auch Ralf Stücker, Leiter der Orthopädie am Kinderkrankenhaus
                           Altona in Hamburg.

                           Stücker selbst hat kürzlich ein Kind behandelt, dessen Gesundheit durch eine
                           KiSS-Therapie beinahe ruiniert worden wäre. Der kleine Patient hatte einen schiefen
                           Hals, konnte den Kopf nicht mehr richtig bewegen. Ein KiSS-Heiler hatte
                           "Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störungen" diagnostiziert und das Kind mit manueller
                           Therapie bearbeitet. Erst der Orthopäde Stücker entdeckte später die eigentliche
                           Ursache der Probleme: Die Halswirbel waren nicht fest miteinander verankert, die
                           Gelenkbänder locker.

                           Das Kind hatte Glück, dass es bei der manuellen Therapie nicht zu einer Verletzung mit
                           Querschnittslähmung kam. Rechtzeitig konnten die Hamburger Ärzte die Wirbelsäule
                           operieren und Schlimmeres verhindern. So warnt die Gesellschaft für Neuropädiatrie, die
                           Vereinigung der deutschen Kindernervenärzte, in einer Stellungnahme zur manuellen
                           Therapie bei KiSS denn auch vor "Manipulationen im Halswirbelsäulen-Bereich".

                           Davon lassen sich die KiSS-Therapeuten nicht beirren. Das Drücken im Genickbereich soll
                           sogar die so genannte Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung (ADHD) vereiteln. Damit
                           versprechen sie, etwas zu verhindern, das wahrscheinlich niemals entsteht. Denn die
                           angeblich so hohe Anzahl von ADHD-Kindern wird von vielen Experten ebenfalls
                           angezweifelt, jetzt erst wieder in einer amerikanischen Studie.

                           Genauso anfechtbar ist der angebliche Erfolg der KiSS-Therapeuten bei Schreikindern.
                           Die Münchner Psychiaterin Mechthild Papousek ist überzeugt, dass Blockierungen in der
                           Halswirbelsäule in den wenigsten Fällen schuld am ununterbrochenen Schreien der
                           Babys seien. Vielmehr sieht sie die Ursache oft bei den stark belasteten Müttern. Es
                           gebe alle möglichen Gründe, sagt die Leiterin der Münchner Sprechstunde für
                           Schreibabys, das KiSS-Syndrom aber sei nicht verantwortlich. Helfe die manuelle
                           Therapie, liege das meist an der "Suggestivwirkung", also am Placeboeffekt.

                           Der Freiburger Korinthenberg bezeichnet es als "Geschenk Gottes, wenn ein Arzt zu den
                           Eltern sagt: Macht euch mal keine Sorgen. Es ist das KiSS-Syndrom, und ich mach euch
                           das weg!" Kein Wunder, dass die KiSS-Ärzte regen Zulauf haben: Eltern, die zum
                           KiSS-Therapeuten Koch möchten, warten vier bis fünf Wochen auf einen Termin.

                           Vielleicht liegt das Problem gar nicht bei den Kindern, sondern bei den Eltern. Dass ein
                           Kind unruhig sei, hänge mitunter davon ab, "ob die Eltern es so erleben", sagt
                           Korinthenberg. Oft seien die Mütter und Väter schlicht vom gesellschaftlichen Druck
                           überfordert, dass aus ihrem Sprössling mal etwas werde. Da wird schon für das
                           Neugeborene Spielzeug nach den psychologisch richtigen Farben zusammengestellt, und
                           die Musik-CD fürs Kinderzimmer soll helfen, aus dem Nachwuchs einen angesehenen
                           Anwalt oder Architekten zu machen. Auf dem Weg zum Erfolg wird jede noch so kleine
                           Abweichung von der vermeintlichen Norm argwöhnisch beobachtet und als krankhaft
                           eingestuft.

                           KiSS-Therapeuten wie Biedermann oder Koch nehmen die Herausforderung gerne an.
                           Sollen sie einem zwei Monate alten Säugling, der sich und die Eltern mit seinem Gebrüll
                           quält, das segensreiche Handauflegen verwehren? "Eltern und Schreikindern ist es ein
                           geringer Trost, wenn der Kinderarzt ihnen sagt: Das hört in ein paar Wochen von selbst
                           auf", sagt Biedermann. Seine Devise lautet daher: Einfach mal loslegen, der Erfolg wird
                           einem schon Recht geben.

                           Auch der Orthopäde von Sabine und Stefan legte einfach mal los. Dabei hätte der
                           KiSS-Mediziner den nach Ansicht der Mutter "absolut unauffälligen" Kindern viele
                           überflüssige Arztbesuche ersparen können. Er hätte sich bloß an eine englische
                           Übersetzung des Begriffs KiSS halten sollen, die manch kritischer Kollege für
                           angemessener hält: Keep it Straight and Simple - frei übersetzt: Warum kompliziert,
                           wenn's einfach geht!
 

                                                                                (c) DIE ZEIT   35/2000