Das KiSS-Syndrom - Oder wie Ärzte aus gesunden Kindern zahlende Patienten
machen
Von Jan Schweitzer
Bei einer Routineuntersuchung sagte der Arzt der Mutter, dass mit ihrer
Tochter etwas
nicht stimme. Symptome zeige das Kind zwar keine. Aber später, da
drohe Ungemach.
Der Mediziner prophezeite der vierjährigen Sabine eine schwierige
Zukunft:
Konzentrationsstörungen würden das Kind beeinträchtigen,
ein Zappelphilipp werde es,
Probleme in der Schule seien die fast zwangsläufige Folge - wenn man
nicht schon jetzt
etwas gegen das Problem mit dem Namen KiSS unternehme.
So wurde aus dem bis dahin gesunden Mädchen für die nächsten
Monate eine
Dauerpatientin in der Orthopädiepraxis einer Kleinstadt nahe Hamburg.
"Bevor man
etwas falsch macht, folgt man besser dem Rat des Arztes", sagte sich die
verunsicherte
Mutter. Langweilen musste sich Sabine beim Arzt nicht, ihr kleiner Bruder
Stefan
begleitete sie. Denn obwohl auch er der Mutter völlig gesund schien,
hatte der Arzt
ebenfalls das KiSS-Syndrom diagnostiziert.
KiSS ist die Abkürzung für Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störungen.
Weil ihr
Kopfgelenk blockiert sein soll, liegen die betroffenen Kinder mit etwas
gebogenem
Rücken im Bett. Oder sie drehen ihren Kopf nur zu einer Seite. Glaubt
man den
KiSS-Ärzten, dann hat die für Unkundige harmlos aussehende Schiefhaltung
fatale
Folgen: Sie machen das Syndrom für Schlafstörungen, Fieberschübe
und Hyperaktivität
verantwortlich. Bei bis zu 90 Prozent der Kinder mit chronischem, dauerhaftem
Kopfschmerz ist KiSS die Ursache, schätzt Lutz Erik Koch, Allgemeinmediziner
und
KiSS-Therapeut aus Eckernförde in Schleswig-Holstein.
Derart eindeutig ist die Diagnose aber längst nicht für alle
Fachleute. KiSS hat vielmehr
einen heftigen Medizinerstreit ausgelöst. Auf der einen Seite stehen
die Verfechter des
KiSS-Syndroms, zumeist Einzelkämpfer aus den Reihen der niedergelassenen
Ärzte. Auf
der anderen Seite behaupten Experten an Universitäten und Kinderzentren,
dass es
KiSS gar nicht gibt. Immer wieder fordern sie Beweise und Belege. "Man
darf nicht über
Jahre etwas propagieren, ohne in dieser Zeit Studien vorzulegen", kritisiert
Dieter Karch,
ärztlicher Leiter der Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie
in Maulbronn. Der
Chef der Universitäts-Kinderorthopädie in Heidelberg, Claus Carstens,
bezeichnet KiSS
gar als "puren Humbug" und spricht von Behauptungen, "die durch nichts
belegt sind.
KiSS hält einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand."
Trotz aller Zweifel beharren viele Eltern darauf, ihre Kinder seien KiSS-krank.
Der Befund
ist Balsam auf ihre Seelen, vermutet der Bielefelder Jugendforscher Klaus
Hurrelmann:
Die handfeste medizinische Diagnose "entlastet die Eltern unheimlich".
Macht der Balg
Schwierigkeiten, dann gibt es für die Probleme endlich einen wissenschaftlichen
Namen.
Die Erziehung kann ja nicht schuld sein, wenn das Kind eine Krankheit wie
Masern oder
Röteln hat.
Der "Erfinder" von KiSS ist gebürtiger Schwabe. Seine Privatpraxis
in Dortmund ist gut
besucht. Heiner Biedermann hat schon Tausende von KiSS-Kindern mit seiner
speziellen
manuellen Chirotherapie behandelt: Mit einem Finger drückt er den
kleinen Patienten
sanft auf einen bestimmten Punkt im Nacken. Auf welche Weise die Behandlung
im
Körper wirken soll, kann der Meister genauso wenig erklären wie
alle seine Jünger. "Man
sollte sehr zurückhaltend sein mit großen Erklärungen",
schreibt Biedermann in seinem
gut verkauften Buch KiSS-Kinder. Selbst nach zehn Jahren eiern die KiSS-Therapeuten
durchs medizinische Wörterbuch, wenn sie das Rätsel KiSS zu erklären
versuchen. Vage
spricht Biedermanns Mitstreiter Koch von "Wahrnehmungsrezeptoren" im Nacken,
von
"falschen Informationen, die dort reingehen und damit auch die Gehirnfunktion
beeinflussen". Deutlicher wird er erst, als er den Auslöser des Schiefhaltesyndroms
benennen soll: die Geburt. "Kein Tier, bis auf eine Affenart, muss eine
so schlimme
Geburt hinter sich bringen", sagt Koch. Die natürliche Entbindung,
bei der das Kind sich
mit allerlei Verrenkungen durch den Geburtskanal zwängen muss, seien
der Auslöser
des Übels. Und auch die Gene seien schuld, sagt Koch. Oft beobachte
er die gleichen
Fehlhaltungen bei Vater und Sohn.
Persönliche Beobachtungen statt wissenschaftlicher Belege diktieren
das Konzept der
KiSS-Verfechter. In einem Punkt aber sind sie sicher: Ihre Behandlung hat
Erfolg. Der
Druck auf den Nacken der Kinder löse Blockierungen in der Wirbelsäule.
50 bis 100 Mark
verdienen die Ärzte an solch einer Behandlung. Das sind Kosten, die
die Krankenkassen
meist nicht übernehmen, die sich nach Ansicht der KiSS-Therapeuten
aber lohnen: Häufig
stelle sich schließlich bereits einige Tage später eine Besserung
ein. Die Babys liegen auf
einmal gerade in ihrem Bettchen, sie schauen nicht mehr nur zu einer Seite.
Plötzlich
haben die Mütter keine Probleme mehr beim Stillen. Kinder, die Nächte
zuvor ohne
Pause weinten, schlafen nun friedlich, ohne einmal aufzumucken.
Und die Heilung soll anhalten. Das vom KiSS-Syndrom befreite Kind kann
sich normal
entwickeln: keine Angst mehr vor einem hyperaktiven Rabauken, keine Panik
angesichts
zukünftiger Störenfriede. Es gibt kaum ein Kinderleiden, das
KiSS-Therapeuten nicht zu
kurieren versprechen, die Palette der Verheißungen wird jährlich
größer.
Forsch reden sie auch über Zahlen. Koch schätzt zehn Prozent
aller Säuglinge als
"auffällig" ein. Übersetzt heißt das: Jedes zehnte Kind
hat seiner Meinung nach das
Schiefhaltesyndrom. Mal mehr, mal weniger, mal gar nicht sichtbar - und
natürlich immer
nur vom erfahrenen KiSS-Spezialisten behandelbar.
Die medizinischen Gegner solcher Methoden hingegen meinen, es gebe bei
KiSS gar
nichts zu behandeln. Der Heidelberger Kinderorthopäde Carstens sagt,
die meisten
Schiefhaltesymptome verschwänden durch "intensives Abwarten". Dem
stimmt auch der
Freiburger Kindernervenarzt Rudolf Korinthenberg zu: "Beidiesem so genannten
KiSS-Syndrom wird ein meist harmloses Symptom überbehandelt."
Ärztlicher Aktionismus kann gefährlich werden
Doch der Mediziner warnt davor, die KiSS-Therapie bloß als ärztlichen
Aktionismus
abzutun. Gefährlich wird die Diagnose, wenn sie von ernsthaften Krankheiten
wie
Tumoren oder Fehlbildungen ablenkt. "Ich habe die Sorge, dass nicht mehr
nachgedacht
wird, wenn KiSS diagnostiziert wurde", sagt er. Die wirklich helfende Therapie
würde
dann verzögert, meint auch Ralf Stücker, Leiter der Orthopädie
am Kinderkrankenhaus
Altona in Hamburg.
Stücker selbst hat kürzlich ein Kind behandelt, dessen Gesundheit
durch eine
KiSS-Therapie beinahe ruiniert worden wäre. Der kleine Patient hatte
einen schiefen
Hals, konnte den Kopf nicht mehr richtig bewegen. Ein KiSS-Heiler hatte
"Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störungen" diagnostiziert und das
Kind mit manueller
Therapie bearbeitet. Erst der Orthopäde Stücker entdeckte später
die eigentliche
Ursache der Probleme: Die Halswirbel waren nicht fest miteinander verankert,
die
Gelenkbänder locker.
Das Kind hatte Glück, dass es bei der manuellen Therapie nicht zu
einer Verletzung mit
Querschnittslähmung kam. Rechtzeitig konnten die Hamburger Ärzte
die Wirbelsäule
operieren und Schlimmeres verhindern. So warnt die Gesellschaft für
Neuropädiatrie, die
Vereinigung der deutschen Kindernervenärzte, in einer Stellungnahme
zur manuellen
Therapie bei KiSS denn auch vor "Manipulationen im Halswirbelsäulen-Bereich".
Davon lassen sich die KiSS-Therapeuten nicht beirren. Das Drücken
im Genickbereich soll
sogar die so genannte Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung
(ADHD) vereiteln. Damit
versprechen sie, etwas zu verhindern, das wahrscheinlich niemals entsteht.
Denn die
angeblich so hohe Anzahl von ADHD-Kindern wird von vielen Experten ebenfalls
angezweifelt, jetzt erst wieder in einer amerikanischen Studie.
Genauso anfechtbar ist der angebliche Erfolg der KiSS-Therapeuten bei Schreikindern.
Die Münchner Psychiaterin Mechthild Papousek ist überzeugt, dass
Blockierungen in der
Halswirbelsäule in den wenigsten Fällen schuld am ununterbrochenen
Schreien der
Babys seien. Vielmehr sieht sie die Ursache oft bei den stark belasteten
Müttern. Es
gebe alle möglichen Gründe, sagt die Leiterin der Münchner
Sprechstunde für
Schreibabys, das KiSS-Syndrom aber sei nicht verantwortlich. Helfe die
manuelle
Therapie, liege das meist an der "Suggestivwirkung", also am Placeboeffekt.
Der Freiburger Korinthenberg bezeichnet es als "Geschenk Gottes, wenn ein
Arzt zu den
Eltern sagt: Macht euch mal keine Sorgen. Es ist das KiSS-Syndrom, und
ich mach euch
das weg!" Kein Wunder, dass die KiSS-Ärzte regen Zulauf haben: Eltern,
die zum
KiSS-Therapeuten Koch möchten, warten vier bis fünf Wochen auf
einen Termin.
Vielleicht liegt das Problem gar nicht bei den Kindern, sondern bei den
Eltern. Dass ein
Kind unruhig sei, hänge mitunter davon ab, "ob die Eltern es so erleben",
sagt
Korinthenberg. Oft seien die Mütter und Väter schlicht vom gesellschaftlichen
Druck
überfordert, dass aus ihrem Sprössling mal etwas werde. Da wird
schon für das
Neugeborene Spielzeug nach den psychologisch richtigen Farben zusammengestellt,
und
die Musik-CD fürs Kinderzimmer soll helfen, aus dem Nachwuchs einen
angesehenen
Anwalt oder Architekten zu machen. Auf dem Weg zum Erfolg wird jede noch
so kleine
Abweichung von der vermeintlichen Norm argwöhnisch beobachtet und
als krankhaft
eingestuft.
KiSS-Therapeuten wie Biedermann oder Koch nehmen die Herausforderung gerne
an.
Sollen sie einem zwei Monate alten Säugling, der sich und die Eltern
mit seinem Gebrüll
quält, das segensreiche Handauflegen verwehren? "Eltern und Schreikindern
ist es ein
geringer Trost, wenn der Kinderarzt ihnen sagt: Das hört in ein paar
Wochen von selbst
auf", sagt Biedermann. Seine Devise lautet daher: Einfach mal loslegen,
der Erfolg wird
einem schon Recht geben.
Auch der Orthopäde von Sabine und Stefan legte einfach mal los. Dabei
hätte der
KiSS-Mediziner den nach Ansicht der Mutter "absolut unauffälligen"
Kindern viele
überflüssige Arztbesuche ersparen können. Er hätte
sich bloß an eine englische
Übersetzung des Begriffs KiSS halten sollen, die manch kritischer
Kollege für
angemessener hält: Keep it Straight and Simple - frei übersetzt:
Warum kompliziert,
wenn's einfach geht!
(c) DIE ZEIT 35/2000